DFG-Graduiertenkolleg „Unterrichtsprozesse“

Lehrerpersonen als Unterrichtsdiagnostiker

Fragestellung.
Nachdem im letzten Jahrzehnt bei Lernstandserhebungen (wie TIMSS, PISA, IGLU, DESI) und Vergleichsarbeiten ebenso wie in den Bildungsstandards die nachweislichen Ergebnisse von Schule und Un­terricht im Vordergrund standen, erfolgt derzeit eine Rückbesinnung auf die Qualität der Unterrichtspro­zesse (Helmke & Schrader, 2008) und auf Merkmale der Lehrerprofessionalität (Helmke, 2009). Insbesondere der Umgang mit Heterogenität sowie die Notwendigkeit der individuellen Förderung der Schülerinnen und Schüler stellen hohe Anforderungen und erfordern neben pädagogischen und didaktischen Kompetenzen ins­beson­dere auch diagnostische Kompetenzen von Lehrpersonen. Gegenstand der geplanten Dissertationen ist ein Teilaspekt der diagnostischen Kompetenz von Lehrkräften, nämlich die Fähigkeit, eigenen und fremden Unterricht zutreffend einzuschätzen und unterrichtsdiagnostische Informationen für die gezielte Veränderung des Unterrichts zu nutzen. Es soll untersucht werden, wie Lehrkräfte mit Unterschieden zwischen Selbst- und Fremdeinschätzungen des Unterrichts umgehen und welche Konsequenzen sie daraus für ihren Unterricht ziehen. Im Mittelpunkt stehen Fragen folgender Art: (1)  Welche Reflexions- und Interpretationsprozesse treten beim Abgleich von Selbst- und Fremdwahrnehmung des Unterrichts (Kollegen, Schüler) auf? (2) Wie gehen Lehr­kräfte mit den kategorienbasierten Werkzeugen der Unterrichtsdiagnostik um, und wie lassen sich diese verbessern? (3) Unter welchen Bedingungen werden unterrichtsdiagnostische Informationen für die Planung und Realisierung von Unterrichtsentwicklungs­prozessen genutzt? (4) Wie las­sen sich diagnostische Kompetenzen weiter entwickeln?

Theoretischer Hintergrund.
Grundlage des Themas sind Forschungen zur Diagnosekompetenz (Schrader, 2008), zum Lehrerwissen (Bromme 2008), zum Feedback (Hattie & Timperley, 2007) sowie zur Wirksamkeit des Unterrichts (Helmke, 2009). Auf dieser Basis wurde ein Modell der evidenzbasierten Verarbeitung und Nutzung unterrichtsdiagnostischer Informationen entwickelt, das verschiedene Phasen der Diagnose und Evaluation (Information – Interpretation und Reflexion – Aktion – Evaluation) umfasst und individuelle (z.B. di­agnoserelevantes Professionswissen, Motivation) von kontextuellen Bedingungsfaktoren (z.B. Kooperations­klima und Innovations­bereitschaft im Kollegium) unterscheidet.

Relevanz.
Seit PISA stellt die Verbesserung der diagnostischen Kompetenz ein zentrales Handlungsfeld der KMK dar; dies kommt auch in den Professionsstandards für die Bildungswissenschaften zum Aus­druck (KMK, 2004). Die zutreffende Diagnose eigenen und fremden Unterrichts kann als ein Schlüssel zur Verbesserung der Unterrichtsqualität angesehen werden. Neuere Videostudien, die die Kluft zwischen Selbst­einschätzung und Realität zentraler Merkmale der Unterrichts aufgezeigt haben (T. Helmke et al., 2008), wei­sen auf den damit verbundenen Handlungsbedarf hin. Diagnostische Kompetenzen sind auch Gegenstand des 2009 gestarteten KMK-Projekt „Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte in Hinblick auf Verbesserung der Di­agno­sefähigkeit als Voraussetzung für den Umgang mit Heterogenität und individuelle Förderung“. Das Pro­jektmodul „Diagnostik des Unterrichts“ (Leitung: A. Helmke und F.-W. Schrader) ist zugleich Grundlage für die Dissertationen im Projekt A des Graduiertenkollegs „Unterrichtsprozesse“.

Methodisches Vorgehen.
Die Arbeiten in der ersten Hälfte des Antragszeitraums sind eng an das KMK-Pro­jekt zur Unterrichtsdiagnostik angedockt. Die dort entwickelten Werkzeuge und Verfahren (Studien­brief, Ma­nual, Software, Instruktionen) sollen in den Dissertationsprojekten genutzt werden, um die oben skizzierten Fragen zu untersuchen. Die empirischen Erhebungen erfolgen im Rahmen der Selbstevaluation in Schulen (kategorienbasierte Diagnostik des Unterrichts aus verschiedenen Perspektiven und zu mehreren Messzeit­punkten) und sehen Befragun­gen (Fragebögen und strukturierte Interviews) der unterrichtenden und hospitie­renden Lehrpersonen zur In­terpretation und Reflexion der unterrichtsdiagnostischen Ergebnisse und zur un­terrichtsbezogenen Handlungsplanung und –realisierung vor; weitere Untersuchungsgegenstände sind die Nützlichkeit der dabei eingesetzten Werkzeuge und die „usability“ der dabei verwendeten Pro­gramme.

Darauf aufbauend sind für die zweite Hälfte des Antragszeitraums quasi-experimentelle Studien geplant, mit denen der Einfluss unterschiedlicher Lernumgebungen (Studienbrief versus situierte-kommunikative Me­thode) auf die Veränderung diagnostischer Kompetenzen bei verschiedenen Personengruppen ( Lehramtsstudieren­den mit Unterrichtserfahrung, Lehramtsanwärter, berufstätige Lehrpersonen) untersucht werden.